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ToggleEs war heute das siebenundsechzigste Mal, dass eine der vielen Damen von der Volkshilfe zu mir kam (2019). Fast immer zu selben Zeit so zwischen 10 – 11 Uhr am Vormittag, regelmäßig am Mittwoch. Es war wie immer.
Freundliche Begrüßung, und sofort legte sie los mit den Arbeiten in meinem Haushalt. Müll rausbringen, Wäsche aufhängen, staubsaugen, Boden wischen, in der Küche sauber machen, Geschirr abwaschen, WC putzen, Katzenklo ausräumen, im Wohnzimmer Staub wischen. Zwischendurch fragt Sie, ob Sie sonst noch was für mich tun kann. Und so ganz nebenbei quatsche ich Sie mit all meinen Sorgen, Anliegen und Gedanken voll.
Eine intensive Stunde
Mein Gesprächsbedarf ist hoch, ist ja sonst niemand da, den ich meine Geschichten erzählen kann. Jedes Mal nehme ich mir vor, nicht so viel zu reden, aber es sprudelt so akkurat aus mir heraus. Ich möchte Sie ja keineswegs von Ihrer Arbeit abhalten. Doch Sie meistert es allwöchentlich bravourös, Multitasking in Perfektion. Stets mir freundlich zugewandt.
Als im Herbst 2017 die erste Heimhilfe kam, war ich unsicher, ob das klappen wird. Es ist ja lediglich eine Stunde in der Woche. Was kann da schon viel geschehen? Aber ich war sehr dankbar, dass überhaupt Hilfe da war. Die Wohnung hatte es bitter nötig.
Chaos im Haushalt
Schon bevor ich wegen der Thrombose und der Lungenembolie ins Krankenhaus akut eingeliefert wurde, habe ich kaum noch etwas im Haushalt tun können. Ich war dazu körperlich einfach nicht mehr in der Lage. Als Draufgabe die neu aufgeflammte Depression mit permanenten Angstausbrüchen. Im Gegensatz zu 2012, wo ich den totalen Zusammenbruch erlitten hatte, waren da mittlerweile Gott Dank eine Therapeutin, eine fantastische Hausärztin und ein hervorragende Psychiaterin die mir zu Seite standen.
Dennoch war es ein herber Rückschlag für mich. Ich hatte so viel geplant. Hört das nie auf? Nein, eine Depression ist immer da! Ich habe einfach nur gelernt, damit zu leben. Vor allem aber, musste ich akzeptieren, dass Vieles langsamer voran ging. Und noch viel mehr, dass ich zu manchen gar nicht mehr in der Lage bin. Die Zeit, nachdem ich meinen Job im Jahr 2012 verloren hatte zehrte länger als ich vermutet habe. Es hat mich damals für viele Monate eingefroren. Ich war sprachlos, hilflos, ich bin physisch und psychisch erstarrt. Vergleichbar mit einem See, dessen Eisdecke Zentimeter dick das darunter liegende Leben zum Stillstand bringt.
Viele Brüche
Eine zerbrochene Partnerschaft obendrauf, das war einfach nicht mehr zu verkraften. Selbstverständliche alltägliche Tätigkeiten werden zu einer Tortur. Mit einem Schlag, war alles ganz anders. Wie oft habe ich mich gefragt: „Wie kann das nur sein?“ Vor Kurzem ging ich arbeiten, führte meinen Haushalt, kochte fast täglich frisch, versorgte meine Kater und kümmerte mich um meinen Sohn. Hatte ausreichend soziale Kontakte, verbrachte viel Zeit in der Natur und bewegte mich ausreichend.
Ich fühlte mich damals mit knapp fünfzig Jahren verdammt jung. Meinen Träumen hauchte ich schön langsam Realität ein. Und dann…eine Watsche nach der anderen. Kaum hatte ich mich ein wenig von den Katastrophen erholt, habe ich mir 2014 zweimal kurz hintereinander das Bein gebrochen. Abermals, hilflos, tatenlos auf der Couch liegen. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Wie heißt es so schön, aufstehen und Krone richten. Das habe ich auch getan. Bin sogar mit dem Gips auf ein Konzert der Rolling Stones gehumpelt.
Mühsam
Sobald der Gips ab war, wollte ich Stück für Stück meinen Körper in Schwung bringen. Ich war auf einem guten Weg. Nach jeder Therapie, ging ich ausgiebig spazieren, fuhr nicht bei jedem Einkauf mit dem Auto ins Einkaufszentrum und wollte das verstaubte Fahrrad aus dem Keller holen. Doch da lauerte die nächste Katastrophe auf mich. Ich wurde überfallen und massiv bedroht. Erneut Starre. Entsetzen. Stillstand. Wenn man fortwährend geschlagen und verletzt wird, egal ob seelisch oder körperlich, lernt man mit der Zeit richtig darauf zu reagieren. Ich holte mir sofort Hilfe. Doch die seelischen Wunden, die musste ich selbst versorgen. Wieder von Vorne beginnen. Mühsam. Ja, niemand hat gesagt, dass das Leben leicht ist. Selten habe ich mich beklagt, selten habe ich jemand dafür verantwortlich gemacht aber allzu oft habe ich mir selbst Vorwürfe gemacht. Aber das bringt einem ja schlussendlich auch nicht weiter.
Alltag meistern
Meine Therapeutin versuchte mir verzweifelt aufzuzeigen, welche Fortschritte ich in all den Jahren bereits gemacht habe. Ich habe es völlig anders wahrgenommen. Es fühlte sich total anders an. In der Quintessenz ist die Tatsache, mich eigenständig zu versorgen, die Wohnung sauber zu halten gar nicht so relevant. Selbst den Jobverlust habe ich mit der Zeit angenommen und mich verstärkt meinen kreativen Aktivitäten gewidmet. Es ist vielmehr schmerzhaft zu akzeptieren, dass ich kaum für andere, in welcher Form auch immer, da sein kann.
Und sei es nur, einfach spontan irgendwo einen Kaffee trinken gehen, plaudern, spazieren gehen, ein Konzert besuchen oder andere Kleinigkeiten, die man so mit Menschen tut, die man gerne hat. Die Energien reichen dafür einfach nicht aus. Die gesamten Kräfte fließen in den immer wiederkehrenden Neuaufbau einen angemessenen Lebensstatus zu erreichen. Täglich beschäftigt, die einfachsten Dinge im Alltag zu meistern. Die 2018 diagnostizierte schwere Osteoporose zerbröselt meine Knochen. Ich hoffe inständig, dass ich dadurch nicht völlig zerstört werde.
Veränderung
Aber in der Rückschau betrachtet hat jeder einzelne Tiefschlag auch jeweils positive Spuren hinterlassen. Wer weiß, ohne den Krankenhausaufenthalt hätte ich vielleicht heute keine Heimhilfe, die mich wöchentlich eine knappe Stunde glücklich macht.
Deshalb bin ich bin noch immer entsetzt über die Hiobsbotschaft, die Sie mir heute Mittag verkündigt hat. Ab kommender Woche, wird Sie und die anderen Damen die bisher bei mir waren, nicht mehr kommen. Ist ja nicht so schlimm, wird sich vielleicht der eine oder andere denken. Es gibt ja weiter Unterstützung. Stimmt, ja. Doch für mich ist es abermals ein Schlag in die vernarbte Magengrube.
Fuktionsfähig
Diese Menschen waren nicht nur eine kleine Hilfe im Haushalt. Nein, sie sind mit der Zeit eine wichtige Konstante in meinem Alltag geworden. Die Sicherheit, es gibt zumindest einmal in der Woche einen Ansprechpartner. Sie sind mir ans Herz gewachsen. Natürlich sind da noch mein Sohn und eine Freundin, welche ich sehr zu schätzen weiß. Aber deren Zeit ist äußerst begrenzt, die sie mir widmen. Und die wertvollen Stunden, die sie mir schenken, möchte ich nicht unbedingt damit vergeuden, meine Probleme auf zu arbeiten.
Die Nachricht heute Mittag von Frau J. hat mir bewusst gemacht, wie unendlich wichtig es für mich ist, es ist da jemand der mir zuhört, der sich um mich kümmert und der mir seine Zeit widmet. Mich als völlig normales Lebewesen annimmt und das Gefühl gibt ein stinknormaler Mensch zu sein. Ein Mensch, der zwar krank und nicht mehr so funktionsfähig wie andere. Jedoch eine Frau, die noch Träume und Ziele hat, trotz aller Watschen, Ohrfeigen, Schläge, Enttäuschungen, Niederschläge, Bedrohungen. Kleine Katastrophen, die für mich zu einem unüberwindbaren Desaster heranwachsen.
Aufarbeitung
Tragödien, die sich in kreative Werke verwandeln. So wie diesen Text. Diese Worte sind mein Dankeschön an alle Damen, ein, zwei Herren waren auch darunter, die mir bis dato 67-mal Ihre Hilfe geschenkt haben. Sie brachten mir die Menschenliebe entgegen, die scheinbar heutzutage zwischen den unübersichtlichen Geschehnissen da draußen in der Welt etwas im Nebel verborgen bleiben. Ich möchte diesen Nebel mit ein paar sonnigen Worten ein wenig wegblasen. Ein ganz besonderes Dankeschön an Frau J., Frau S. und Frau B. Ihr seid wertvolle Menschen und macht mehr als nur einen Job!
Herzlichen Dank!
Herzlichen Dank auch an die Leser, welche bis ans (bittere) Ende durchgehalten haben. Auch Ihr habt Eure wertvolle Zeit mir und meinen mehr als 1200 Worten gewidmet, die mir am Herzen lagen, die ich unbedingt niederschreiben musste.
So viele Gedanken brennen noch in mir, die zu Tage gebracht werden müssen. Jeder einzelne davon soll nicht länger in mir eingesperrt sein. Sobald die Worte freigelassen werden, erleichtern sie mir mein Leben ein wenig, zumindest für einen kleiner Moment der Befreiung. Ein winzig kleiner Schritt zu einem autarken Leben. Meinem Leben.
Wie sagte ein bereits verstorbener Freund: „Was drückt, muss raus!“
Nachwort / 02.10.2023
Diese Woche kommt zum 303. Mal eine Heimhilfe zu mir. Das Team hat sich geändert, jedoch die Unterstützung ist nach wie vor wunderbar. Vorwiegend Damen kümmern sich umsichtig um mein Wohlbefinden. In all den Jahren gab es lediglich einen Vorfall welcher sehr unangenehm war. Dieser zwang mich dazu, diese Person von der Betreuung auszuschließen. Es war besser so, da ich keinerlei negativen Ereignisse zusätzlich benötige. Dazu sage ich:“Nein, Danke!“.
❤
🙂 :-*