Vor Angst in die Hose brunzen

Wien, 03.11.2020

Wie so viele andere Menschen habe auch ich diesen Montag die vorerst letzte Möglichkeit genutzt, in einem Lokal einen guten Wiener Kaffee zu genießen. Bei der Abfahrt von zu Hause hat es noch stark geregnet. Ob wir wohl im freien sitzen können, fragte ich mich in der U-Bahn in Richtung Innenstadt. Aber der Wetterbericht hat angenehme Temperaturen für den Schanigarten vorhergesagt, also war ich zuversichtlich.

Ich bin ja zu Fuß nicht so besonders gut unterwegs, deshalb plane ich meist die doppelte Zeit für die Anreise ein, als man üblicherweise benötigen würde. Gut so. Der Fahrscheinautomat bei der Einstiegstation funktioniert nicht. Fahre mit schlechten Gewissen eine Station weiter und löse dort mein Ticket. In einer der kommenden Haltestellen entschuldigt sich der Lenker der U-Bahn freundlich für den etwas längeren Stopp.

Gesichter lesen

Alle Fahrgäste haben brav ihre Münder und Nasen mit einer Schutzmaske bedeckt. Unterschiedliche Modelle verstecken die Gesichter. Noch immer ungewohnt und etwas unheimlich für mich. Auch wenn ich schon immer die Menschen im Gesamtauftritt betrachte, jedoch um einen ersten Eindruck zu bekommen, beobachte ich doch meist die Mimik. Die Vielfalt der Antlitze bietet jede Menge Lesestoff.

Das Buch, welches ich in meiner Tasche habe, nehme ich nicht zur Hand. Irgendwie ist mir nicht danach, unabhängig davon dauert die Fahrt ohnehin nicht besonders lang. Mit großer Vorfreude auf meine Allerliebste, stehe ich schon beim Schwedenplatz auf. Achja, heute ausnahmsweise Treffpunkt am Stephansplatz.

Zehn Stunden später:

Verschlafe die ersten Meldungen über das Drama in der City. Ein so ein kleiner Ausflug ist sehr anstrengend für mich, zumal ich auch die vorangegangene Nacht wenig geschlafen habe. Laufende Buchstaben am oberen Rand auf dem Fernseher mitten in einer Unterhaltungssendung deuten auf nichts Gutes. Beim Blick in die Nacht aus dem Fenster entdecke ich ein blinkendes Licht am Himmel. Vermutlich ein Hubschrauber. Verschiebe bewusst meine Recherche auf einen späteren Zeitpunkt. Es tut nicht gut, die Terrormeldungen in Dauerschleife zu konsumieren. Erinnere mich an die stundenlangen Berichterstattungen am 11.09.2001. Welche damals einen massiven mentalen Zusammenbruch auslöste und ich in der Psychiatrie landete.

Nein, ich möchte das alles nicht mehr sehen. Und vor allem zudem fühlen. Es schmerzt, tut verdammt weh, es ist so unfassbar traurig, was mit all den unschuldigen Menschen geschieht. Egal an welchen Ort auf dieser Erde. Die Nähe zum Ort des Geschehens verstärkt zwangsläufig die Trauer. Wunderbare Stunden habe ich dort schon verbracht. Spannende Menschen kennengelernt, ob Tag oder Nacht. Unzählige Plaudereien mit meiner Allerliebsten. Und jetzt ist diese geschichtsträchtige Gegend ein Platz vieler Tatorte.

Alte Geister

Einer der vielen Tatorte meines Lebens. Die Wohnung meiner Oma, die Wohnung im sechsten Stock am See und obendrein in meinem jetzigen zu Hause. Hier wo es zweimal zu brutalen Übergriffen kam. Der Schlusspunkt meiner Ehe, wo mein Exmann mich geschlagen, erbarmungslos gewürgt und anschließend über Jahre gestalkt hatte. Um diese furchtbaren Ereignisse und sämtliche damit verbundenen Kollateralschäden zu verarbeiten musste ich die Wohnung neu beleben. Sozusagen die bösen Geister vertreiben.

Déjà-vu

Ebensolche zogen vor einigen Jahren wieder hier ein, als ich mehr als ein Jahr von einem Hausbewohner mit Morddrohungen überhäuft wurde. Permanentes starkes Klopfen und Fußtritte gegen meine Wohnungstüre. Ich saß nur noch traumatisiert in meinem Wohnzimmer, traute mich nur mit starkem Herzklopfen und Schweißausbrüchen ins Vorzimmer. Hier befinden sich auch die Küche, das Bad und das Klo. Die Türe dorthin war wie eine unsichtbare Barriere die mir den Weg nach draußen versperrte. Jegliches unbekannte Geräusch löste Panik in mir aus. Ich erstarrte regelrecht. Selbst wenn der Druck auf der Blase meinen Bauch schon beinahe zum Platzen brachte, schaffte ich keinen Schritt in Richtung Toilette.

Durch all die jahrelangen therapeutischen Unterstützungen habe ich gelernt in solchen Momenten sofort Hilfe zu holen. Was ich auch an mehreren Stellen getan habe. Die Menschen standen mir hilfreich zur Seite. Aber die vorherrschende Angst, die zusätzlich mit den Triggern aus der Vergangenheit gefüttert wurden musste ich völlig alleine vertreiben. Es kostete mir abermals zwei Jahre meines Lebens und weitere zusätzliche gesundheitliche Einschränkungen.

Schock-Trigger

Keineswegs möchte ich diese privaten Begegnungen mit Gewalt mit dem Terror auf den Straßen der Stadt gleichstellen. Jedoch sie lösen ebenso Furcht, Angst, Wut, Verzweiflung, Ohnmacht, Verstörung, Trauer aus. Folglich auch Traumata. Das Grundvertrauen ist massiv erschüttert. Geschockt über eine lange Zeit.

Meine lebenslange Erfahrung mit Gewalt hat mich bisher nicht getötet. Das möchte ich auch weiterhin so gut wie möglich verhindern. Mir reicht das Kranksein, die Alleinsamkeit und all die erschütterten Menschen in dieser Welt. Gestern Wien, morgen wieder irgendwo anders.

Ablenkung

Meine Art damit umzugehen ist meist kreatives Tun. Malen, Schreiben. Weinen, nachfühlbare Gedanken an betroffene Menschen. Kinder, die völlig aus der Bahn geworfen werden. Haltet die Lieben fest in euren Armen. Umarmt sie innig. Sagt ihnen, dass alles wieder gut wird. Holt sie zärtlich in eure liebevolle Hängematte voll Wärme. Auch wenn ihr selbst manchmal Zweifel daran habt. Gebt eurer Empfindsamkeit Platz. Bereitet den aufkommenden Gefühlen einen Ort sich behutsam zu entfalten. Verbannt all die brutalen Orschlöcher, welche euch lediglich einschüchtern wollen. 

Ich kann nicht immer darüber reden. Oft verschlägt es mir definitiv die Sprache oder es fehlt einfach jemand mit den ich mich austauschen könnte. Doch ich muss es loswerden, also schreibe ich darüber. Was drückt, muss raus.

Viel Liebe, eine innige Umarmung an Alle.

Nachtrag: Info zum Wort „brunzen“ laut Duden:

 Bedeutung: urinieren

Synonyme: Pipi machen, urinieren

Herkunft: mittelhochdeutsch brunzen, zu: brunnen = hervorquellen, zu Brunnen

Bluesanne

Bluesanne

Künstlerin
*Alltagsphilosophin - *Philanthropin - *Autodidaktin - *MusikConnaisseuse
verfasst am 03.11.2020 ©Bluesanne

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